Montag, 23. November 2015

Tipp für 2016: Mit dem Hausboot durch den Oberlandkanal, Polen

Am Rollberg Caluny fährt eine Hausboot-Yacht den Berg hinab (Foto: © Maike Grunwald)

Darf es 2016 mal etwas Schräges sein? Dann empfehle ich Euch für die kommende Saison eine Fahrt auf dem legendären Oberlandkanal in Polen. Dort werden Boote über fünf Hügel gezogen – mit Wasserkraft auf Schienen über Land. Nach umfassender Renovierung ist das 150 Jahre alte Technik-Wunder seit diesem Jahr endlich wieder befahrbar. 

Blick über den Bug "unserer" Yacht (Vistula Cruiser 30) bei der Talfahrt (Foto: © Maike Grunwald)

Der Kanal ist weltweit einzigartig, ihn mit dem mit dem Hausboot zu beschippern einfach toll. Das kann in Polen jeder, denn ein Bootsführerschein ist dort für solche Yachten nicht vorgeschriebenZum Jetzt-Schon-Planen  hier mein Bericht mit Fotos, Insider-Experten-Tipps und Infos zum Selberfahren!



Im Boot über den Berg


Es ruckelt und wackelt ein wenig, dann startet sie, die Bootsfahrt über Land. Steil geht es bergauf. Der Blick vom Cockpit prallt auf die Rasenfläche des grünen Hangs vor dem Bug. Steuern bringt jetzt nichts. Unter dem Kiel ist keine Handbreit Wasser mehr. Nur noch Wiese.

Das Hausboot fährt über Land – auf einer Art Waggon, der wiederum auf Eisenbahnschienen den Berg hinaufgezogen wird. Die nächsten 433 Meter bleibt es schräg. Fest vertäut liegt die Yacht auf ihrer Transportlore, fast wie auf dem Trockendock. Der Außenbordmotor ragt nutzlos hinten hinaus in die Luft. 

Wasserkraft bewegt das dicke Stahlseil der Standseilbahn, die das Boot auf seinem Waggon hinaufzieht. Ringsum wogt ermländische, nordostpolnische Hügellandschaft. Im Schritttempo geht es die geneigte Ebene hinauf, auch Rollberg genannt. 

Begegnung in der Mitte: Während ein Boot hinaufgezogen wird, rollt der zweite Bootstransport-Wagen als Gegengewicht bergab (Foto: © Maike Grunwald)

Der schrägste Kanal der Welt


Fünf solcher Rollberge gibt es insgesamt. Sie sind Teil des legendären Oberlandkanals, der einzigen Wasserstraße weltweit, auf der Boote in dieser Weise über Land fahren können, um Höhenunterschiede zu überwinden. 

1860 wurde der Kanal in der damals deutschen Provinz Ostpreußen eröffnet. 2015, nach umfassender Renovierung, wurde er wieder eröffnet und für den Verkehr freigegeben. 

Schicke Info-Tafeln am Oberlandkanal zeigen den Verlauf, erklären in mehreren Sprachen (auch Deutsch) die Geschichte und wie er funktioniert (Foto: © Maike Grunwald)


Eine Yacht auf Landgang


„Ahoj kapitanie“, schallt es auf halbem Wege von einer anderen Yacht herüber. Sie kriecht auf dem zweiten Gleis zeitgleich den Berg hinunter und bildet so ein Gegengewicht. Auf jedem Rollberg hängen jeweils zwei Loren an einem Endlos-Stahlseil. Während die eine hochzuckelt, fährt die andere bergab, das minimiert den Energieaufwand. Den Rest besorgt die Fördermaschine, die im Maschinenhaus verborgen ist: ein historisches Getriebe mit mächtigen Zahnrädern, angetrieben durch ein Wasserrad. 

22 Meter weiter oben hat die Yacht den Gipfel erreicht und darf nun ins Oberwasser. Leinen los! Jelenie (deutsch: Hirschfeld), die zweite der fünf geneigten Ebenen, ist überwunden. Die nächsten knapp drei Kilometer bis zum nächsten Rollberg Oleśnica (Schönfeld) werden ganz normal auf dem Wasserweg beschippert, so wie es sich gehört. 

Dann beginnt die nächste Landpartie. Das Boot wird wieder in die Lore manövriert, die noch im Kanalwasser steht. Bing! Ein Glockenschlag mit einem Hämmerchen ist das Signal des Skippers, dass die Yacht vertäut ist. Der Mann im Maschinenhaus öffnet sodann ein Ventil, damit herabströmendes Wasser das Schaufelrad antreibt. Die Hälfte der Hausboot-Besatzung ist vorher von Bord gegangen, um Fotos zu schießen – eine Yacht auf Landgang ist schließlich ein seltenes Motiv. 

Freizeit-Kapitän Herbie genießt die skurrile Fahrt bergab über den Rasen  (Foto: © Maike Grunwald)


Fast 100 Meter Höhenunterschied


Sagenhafte 99 Meter Höhenunterschied werden so auf einer Strecke von nur 9,5 Kilometern überwunden. Der Oberlandkanal (polnisch: Kanał Elbląski)verbindet das Oberland um Ostróda(Osterode) mit der alten Handelsstadt Elbląg (Elbing) am Frischen Haff der Ostsee. Je zwei konventionelle Schleusen kurz vor und hinter Ostróda ergänzen die Anlagen des rund 80 Kilometer langen Hauptkanals.

Das ausgeklügelte System der geneigten Ebenen ist einzigartig. Beeindruckend ist auch sein Alter: Moderne Boote befahren hier ein lebendes, rauschendes, quietschendes Baudenkmal, das seit mehr als 150 Jahren in derselben Weise funktioniert wie bei seiner Eröffnung anno 1860. 

Im Maschinenhaus der Ebene Caluny: Maschinist Andrzej Ruczynski bedient die Anlagen der Rollberge seit 23 Jahren und zeigt sie Neugierigen gern (Foto: © Maike Grunwald)


Für 30 Mio. Euro schön gemacht


Daran hat sich auch nach den jüngsten Sanierungsarbeiten nichts geändert. Gut zwei Jahre lang war der Oberlandkanal Baustelle, bis zu seiner jüngst erfolgten Wiedereröffnung. Umgerechnet rund 30 Millionen Euro flossen in das von der EU unterstützte Revitalisierungsprojekt.

Nun erstrahlt der schrägste Kanal der Welt in neuem Glanz, ohne seinen Nostalgie-Charme eingebüßt zu haben. Die historischen technischen Anlagen sind originalgetreu renoviert, die bunten Umlenkräder der Seilbahnen frisch gestrichen, die Ufer des Kanals befestigt, Besucherwege angelegt. 

Neu sind Kameras beim Betrieb der geneigten Ebenen sowie ein multimediales Museum am höchstgelegenen Rollberg Buczyniec (Buchwalde): In einem ehemaligen Aufsichtsgebäude erfahren Besucher mehr über die Geschichte des Kanals und die Besonderheiten der Landschaft, die ein idyllischer Schutzraum ist für seltene Wasservögel, Biber und anderes Getier. Natürlich wird auch die Funktionsweise der geneigten Ebenen erklärt. 

Unten angekommen, steht der Transportwagen wieder auf dem Kanalgrund, das Boot kann ablegen und zum nächsten Rollberg weiter fahren (Foto: © Maike Grunwald)


Genialer Erfinder aus Königsberg


Als "Genie" gefeiert wird dort auch der Vater des kuriosen Kanals, Jacob Steenke, Ingenieur aus Königsberg, seinerzeit königlich-preußischer Baubeamter. Dem Enkel eines Hafenlotsen ging es damals um ganz profane Wirtschaftsbelange: Ein kürzerer Transportweg von den waldreichen Westmasurischen Seen zur Hanse- und Handelsstadt Elbing am Frischen Haff und damit zur Ostsee sollte her. 

Bislang mussten Holz für den Schiffbau und andere Güter vom Landesinneren über Umwege vom Oberland zur Küste transportiert werden. Ein direkter Kanal würde die Transportzeit um Monate verkürzen.

Allerdings war da der Höhenunterschied von knapp 100 Metern, den es zu überwinden galt – aber wie? Rund 30 Kammerschleusen wären nötig gewesen, ein viel zu teures Unterfangen. 

Inspiriert von einem Vorbild in den USA


Auf der Suche nach neuen Ideen reiste Jacob Steenke 1850 sogar in die USA. Denn in New Jersey gab es ein besonderes System: Die hydrotechnischen Anlagen des Morris Canal mit 23 Kammerschleusen samt ebenso vielen geneigten Ebenen, über die schon damals Schiffe auf Schienenwagen transportiert wurden. Sie wurden Steenkes Inspiration. 

Allerdings entwickelten er und seine Mitarbeiter Wilhelm Severin und Carl Lentze, der später am Bau des Suezkanals mitwirkte, das System noch weiter: Ihre Rollberge mit Gipfeln kamen ohne Kammerschleusen aus – eine Innovation. 

150 Kilometer Wasserwege


Nach Fertigstellung der vier obersten geneigten Ebenen wurde der Oberlandkanal 1860 eingeweiht. Der fünfte Rollberg in Kussfeld (Całuny) kam 1881 hinzu. Er wurde als einziger bereits mit einer elektrischen Turbine ausgestattet, die allerdings ebenfalls mit Wasserkraft betrieben wird. 

Durch Verbindungen der 80 Kilometer langen Hauptstrecke zwischen Elbing und Osterode mit den Seen um Iława (Deutsch Eylau) und Stare Jabłonki (Alt-Jablonken) wurde das System der Wasserstraßen auf mehr als 150 Kilometer Länge ausgeweitet. 

Sehenswerte Attraktion für Urlauber


Das Technik-Wunder des Oberlandkanals zog schon Touristen an, als es für sie noch gar keine eigene Schifffahrt gab. Sie fuhren zunächst auf den Lastkähnen mit, bis ab 1912 Ausflugsdampfer auf den Rollbergen verkehrten. 

Neue Eisenbahnstrecken ließen den Kanal für den Güterverkehr unbedeutend werden, ein Schicksal, das seinem Vorbild in den USA zum Verhängnis wurde: Der Morris-Kanal ist seit über 90 Jahren nicht mehr in Betrieb. Am Oberlandkanal aber wuchs der Tourismus – bis heute. Vor der jüngsten Renovierung waren dort jährlich rund 60.000 Urlauber unterwegs. 

Inzwischen ist das Gebiet des Oberlandkanals mit den angeschlossenen Seen und dem attraktiven Weichselwerder auch bei Hausboot-Kapitänen sehr beliebt. 

Klapper, quitsch: Abfahrt über den Rollberg Jelenie (Foto: © Maike Grunwald)



Tour durch Weichselwerder & Oberlandkanal


Schuld daran ist auch die idyllische Landschaft von Oberland, Ermland und Masuren. Ein ideales Revier für Hausboot-Touren am Oberlandkanal ist das Weichselwerder mit rund 300 Kilometer langen Wasserwegen. Das auch „Klein-Holland“ genannte Gebiet entstand, als im 16. Jahrhundert aus Holland eingewanderte Mennoniten die Sumpflandschaft des Weichseldeltas trockenlegten, Kanäle, Schleusen und Zugbrücken bauten und die Gegend nach holländischem Vorbild gestalteten. 

Das jüngst mit neuen Yachthäfen ausgestattete Revier unter Meeresniveau bietet sowohl idyllische Natur als auch weltberühmte Kulturdenkmäler wie die Marienburg, Europas größte Backsteinburg. 

Gigantisch: die berühmte Marienburg in Malbork (Foto: © Maike Grunwald)


Hausboot vor Ort mieten


„Perfekt ist eine einwöchige Weichselwerder-Tour mit Abstecher durch den Oberlandkanal, für den man ein oder zwei Tage planen kann. Manche nehmen alle fünf Rollberge mit, manche nur zwei – zurück fährt man ja ohnehin noch einmal durch“, sagt Hendrick Fichtner, Spezialist für Hausboot-Urlaub in Masuren. Der gebürtige Westfale und seine polnische Frau vermitteln über ihre Reiseagentur welcome2poland seit 2003 Charter-Touren in seine Sommerheimat – auch an Gäste mit eigenem Boot. 

Aber nicht jede Yacht passt durch den Oberlandkanal. „Generell sollten die Boote nicht mehr als 70 bis 80 Zentimeter Tiefgang haben“, empfiehlt Fichtner und liegt damit noch unter den offiziellen Maßangaben (siehe unten). „Dies gilt nicht nur für die geneigten Ebenen, sondern auch für die Wassertiefen insgesamt: Der Kanal ist teilweise recht flach.“

Yacht-Charter: in Polen ohne Führerschein 


Geradezu maßgeschneidert für Touren an Oberlandkanal und Weichselwerder sind die Motoryachten von Lukasz Krajewski, Gründer von Vistula Cruises, die man auch vor Ort chartern kann. Mit ihrem geringen Gewicht und einem Tiefgang von nur 0,45 Metern ist die 2,92 Meter schmale „Vistula Cruiser 30“, obwohl sie mit Bug- und Heckkabine Schlafplätze für sieben Leute bietet, leicht zu manövrieren. 

Wenn der Skipper Pause machen will, gibt er das Ruder einfach an den Smutje weiter: Für Binnen-Touren mit dem Hausboot ist in Polen in der Regel kein Bootsführerschein erforderlich (Ausnahme: Yachten, die länger als 13 Meter sind, schneller als 15 km/h oder einen Motor mit mehr als 75 kW Leistung haben). 

Schwindelerregender Blick vom Bug auf die Anlagen der Ebene Caluny (Foto: © Maike Grunwald)


Brilliantes Technik-Wunder


Das hydrotechnische Meisterwerk des Oberlandkanals ist heute so beeindruckend wie damals – und im derzeitigen Trend erneuerbarer Energien wieder topmodern. „Es ist brillant“, schwärmt Lukasz Krajewski, „ein Pionier in Sachen Umweltschutz. Das System kommt allein mit der eigenen Wasserkraft des Kanals aus. Es ist quasi ein Perpetuum mobile.“

Dieser Text ist in ähnlicher Form am 22. November 2015 in der "Welt am Sonntag" erschienen.


Mehr Informationen


Zulässige Bootsmaße
Geneigte Ebenen/Rollberge: Maximale Länge: 26,8 Meter, maximale Breite im Bereich des Kiels: 2,6 Meter, maximale Breite bei Bootshöhe 1,3 Meter über Kiel: 3,35 Meter. Tiefgang: weniger als 1 Meter.
Die engste Schleuse bei Ostróda ist 3,2 Meter breit, Boote dürfen hier maximal 3 Meter breit sein.

Anreise
Charter-Firmen bringen Urlauber auf Wunsch vom Flughafen Danzig/Gdansk zur Charter-Basis für das Oberlandkanal- und Weichselwerder-Gebiet, zum Beispiel zur Marina von Rybina (Fischerbabke) oder Elbląg (Elbing). Dort gibt es bei eigener Anfahrt mit dem Auto auch bewachte Parkplätze. Eine Anreise mit dem eigenen Boot(Segelboot mit Außenbordmotor, Hausboot mit sehr geringem Tiefgang)vom Berliner Raum ist über Binnengewässer möglich und dauert zwei bis drei Wochen. Elbląg Führerschein
Für Hausboot-Charter auf dem Oberlandkanal und Weichselwerder ist für die meisten Boote kein Bootsführerschein nötig. 

Zeiten und Gebühren
Die Saison startet im Mai 2016, die fünf Rollberge sind dann bis Ende September täglich von 9 bis 17 Uhr in Betrieb. Um alle fünf Ebenen durchfahren zu können, sollte man bis spätestens um 14 Uhr an der ersten Ebene sein. Gebühr pro Ebene: 7,24 Zloty (umgerechnet weniger als 2 Euro).
Die vier südlich gelegenen Schleusen sind von 9 bis 19 Uhr geöffnet, Benutzung gegen geringe Gebühr. 

Anbieter Bootstourismus
polen-hausboote.de, deutscher Experte für Tourismus in Masuren, Boots-Charter, Vermittlung lokaler Charterfirmen, Begleitung vor Ort, deutschsprachige 24-Stunden-Hotline.
vistulacruises.eu, polnischer Motoryacht-und Hausboot-Experte mit deutschsprachigem Service.
Der Veranstalter welcome2poland.com bietet Hausbootsurlaub und Segelbootcharter an.

Allgemeine Info
Auskunft über Polen beim Polnischen Fremdenverkehrsamt, www.polen.travel

Hinweis: Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt vom Polnischen Fremdenverkehrsamt. Dieser Artikel ist unabhängig davon Ausdruck meiner eigenen Meinung.

Alle Texte und Fotos © Maike Grunwald / Abdruck und Online-Veröffentlichung  der Bilder und Texte nur auf Anfrage und gegen Honorar / Reisetageblog.de ist der Reiseblog von Maike Grunwald