(Glosse, Reise, Maike Grunwald) Es ist Heiligabend, doch von "stiller Nacht" kann keine Rede sein bei der Familie meines Mannes. Seit Jahren besuchen wir sie in Wales, in ihrem kleinen Dorf mitten im hügeligen Nirgendwo. Das nächste Städtchen heißt Llanelli (ausgesprochen ähnlich wie "Chlanechli"), etwa eine Autostunde entfernt von Swansea (auf Walisisch: Abertawe). Es ist sehr idyllisch dort. Aber alles andere als besinnlich.
Adventskranz, Marzipan und Lebkuchen - das spielt in Großbritannien keine Rolle. Bescherung? Nicht an Heiligabend. Denn Weihnachten geht dort erst am 25. Dezember los. Dann aber mit Karacho - und sehr früh: im Morgengrauen, wenn die Kinder ihre Eltern aus dem Schlaf reißen, weil sie endlich die Geschenke auspacken wollen. Zur Mittagszeit wird das Christmas Dinner zelebriert, gern in großer Runde. Ein Festschmaus, unter dem sich Tische biegen: gefüllter Truthahnbraten, dunkle Soße, Rosenkohl, Wurzelgemüse, Schinken, geröstete Kartoffeln und viel, viel, Wein. Zum Nachtisch wird Christmas Pudding mit Brandy-Butter und Eierlikör serviert. Jeder am Tisch trägt ein Krönchen aus Papier. Die kommen aus den Christmas-Crackern: große Knallbonbons, die man vor dem Essen zu zweit auseinanderreißt.
Nachmittags, schon leicht angeheitert, versammeln sich alle um den Fernseher und lauschen gespannt der traditionellen Rede der Königin. Später geht es oft noch in den Pub, denn am nächsten Tag hat man ja frei: Boxing Day, so benannt, weil einst die Herrschaften ihre Dienstleute am zweiten Feiertag mit Geschenkboxen bedachten.
Richtig abenteuerlich wird es, wenn es Weihnachten mal schneit. Denn darauf ist in Wales keiner vorbereitet. Dank des nahen Golfstroms sinken die Temperaturen selten unter null. Da blüht der Ginster auch mal im Dezember, Palmen bleiben das Jahr über im Garten. Das Einzige, was vom Himmel fällt, ist Nieselregen. Daher hat keiner Winterreifen, selbst im hügeligen Wales nicht. Und der Winterdienst? Kaum vorhanden.
Doch fällt tatsächlich einmal Schnee, herrscht plötzlich Ausnahmezustand: Das Auto wird zum schlingernden Schlitten, Flughäfen werden gesperrt, die Eisenbahn fällt aus, manchmal auch der Strom. Einmal haben wir das miterlebt. Dann steht hier wirklich alles still, und das nicht nur nachts.
Text & Foto: (c) Maike Grunwald
Erschienen am 24.12.2011 in: Hamburger Abendblatt